Der Flaschengeist

Kurzgeschichte von C. A. Mayer

Tina wischt sich den Schweiß von der Stirn, lässt den Rucksack von den Schultern gleiten und schaut sich nach einer Sitzgelegenheit um. Die Wahl fällt auf einen Baumstumpf. Ihr Blick gleitet über die bewaldeten Hügel im hellen Sonnenlicht, wandert den Berg hinauf, den sie noch erklimmen muss und den Weg hinunter, auf dem sie gekommen ist. Bevor sie der Steigung weiter folgt, braucht sie jetzt einen ordentlichen Schluck. Tina langt zu ihrem Rucksack, zieht die Mineralwasserflasche aus dem Seitenfach und während ihr Blick schon wieder durch die Landschaft wandert, schraubt sie den Verschluss ab.

Tina setzt an, will trinken, aber statt eines prickelnden Sturzbaches ergießt sich nur ein schwaches Rinnsal über ihre Zunge. Tina stutzt und besieht sich prüfend die Flasche.

Kreisch.

Die Flasche fliegt nach links, Tina hechtet nach rechts und kugelt durchs Gras. Mit weit aufgerissenen Augen hockt sie neben dem Wanderweg. Ihr flackernder Blick sucht die Stelle, an der das Mineralwasser gelandet sein muss.

Höhenkoller? Im Mittelgebirge? Dehydriert? Tina vermutet eine Halluzination. Was sie gesehen hat, kann sie nicht gesehen haben. Das war ein Trugbild. Ganz sicher. Am ganzen Körper bebend rappelt sie sich in die Höhe. Mit schlackernden Knien geht sie zur Flasche hinüber. Die liegt im Gras und leert sich nur wenig. In der Flasche bewegt sich etwas. Tina kann nicht erkennen, was es ist, aber es bewegt sich. Ihr dreht sich der Magen um und sie kämpft gegen den Brechreiz an. Was zum Teufel ist das, was da im verbliebenen Mineralwasser herumpaddelt? Tina schaut sich hilfesuchend um. Sie ist allein auf weiter Flur. Mit diesem Viech in der Flasche. Auf der ist Pfand. Und aus Kunststoff ist sie auch noch. Einfach so in der Landschaft liegen lassen und abhauen kommt also nicht in Frage. Tina sucht nach einem Ast, leicht genug, um ihn zu schwingen und schwer genug, um damit alles zu töten, was in eine Mineralwasserflasche passt. Zentimeter für Zentimeter tastet sie sich näher, den Ast, mit beiden Händen fest umschlossen, über die Schulter gehoben. Was ist das? Tina kneift die Augen zusammen. Ein Tier? Der Körper schimmert blassblau, scheint ein wenig durchsichtig. Tina erkennt Gliedmaßen. Arme und Beine strampeln in der perlenden Flüssigkeit. Ein Frosch?

Tina beugt sich tiefer. Ein Schauer läuft ihr über den Rücken. Das Viech in der Flasche sieht aus wie ein kleiner Mensch. Tina ist so baff, dass sie ganz vergisst, auf die Flasche einzuschlagen. Sie steht nur da und glotzt. Das Wesen in der Flasche presst sich an das Plastik und glotzt zurück.

»Hallo?«

Tina fährt herum und schaut sich um. Niemand zu sehen.

»Hallo?«, ruft sie mit zitternder Stimme. »Ist da jemand?«

»Hier.«

Da ist jemand. Zu ihren Füßen. Das Wesen in der Flasche winkt mit beiden Armen. Es spricht.

Tina schluckt.

»Was … wer …?«

»Ruhig. Ganz ruhig. Kein Grund zur Panik.« Die Stimme aus der Flasche ist zwar leise aber deutlich zu vernehmen. Sie klingt mahnend und auch eine Spur Sorge schwingt darin mit. Das Wesen deutete auf den Ast, den Tina noch immer in die Höhe hält.

Tina lässt erst den Ast zu Boden sinken, dann sich.

»Wer … was bist du?«, haucht sie am Boden hockend.

»Denk mal nach«, fordert das Wesen. Es liefert ein paar Denkanstöße nach: »Flasche. Klein. Ein wenig transluzent. Na?«

»Ein … ein Wassergeist?«

Das Wesen zieht eine Grimasse: »Nicht schlecht. Aber nicht ganz korrekt.« Es tippt mit dem Zeigefinger gegen das Plastik.

»Ein … ein Plastikgeist? Nein, warte. Ein Flaschengeist? Nee, nä?«

Das Wesen macht eine unschuldige Geste: »Was soll ich sagen?«

»Bist du ein Flaschengeist?«

»Seh ich aus wie der Oberförster?«

Tina schüttelt den Kopf.

»Ich hoffe, damit haben wir das geklärt«, sagt das Wesen und nimmt Tina forschend ins Visier: »Es wäre schön, wenn du mich hier herausholen könntest.«

Tina tippt sich an die Stirn. Die andere Hand tastet über den Boden.

»Finger weg von dem Ast.«, schreit der Wicht, in der Flasche. »Das geht auch ohne Gewalt.«

»Und wie?«

»Hm«, das Wesen reibt sich nachdenklich das Kinn. »Ich könnte es dir verraten, aber dann bin ich weg und wer weiß, wo ich wieder lande. Wenn du jedoch von selbst darauf kommst, bin ich frei und könnte dir eventuell ein interessantes Angebot unterbreiten.«

»Aha. Und das wäre?«

»Musst du leider selbst drauf kommen. Denk bitte nach.«

Tina denkt nach. Sie weiß nicht viel über Flaschengeister. Sie wusste bis eben nicht einmal, dass es solche gibt. Glauben will sie es immer noch nicht.

»Bist du so ne Art Werbefigur?« Sie wirft einen Blick auf das Etikett. »Von Waldbrunner?«

»Wer ist Waldbrunner?«

»Der Hersteller.«

»Idioten«, murmelt das Wesen grimmig. »Da durften die gar nicht bohren.« Es schaut zu Tina auf: »Nein, ich bin keine Werbefigur. So weit käme es noch. Hör mal …?«

»Tina.«

»Hör mal Tina. Du verstehst doch sicher, dass ich mich derzeit in einer recht unkomfortablen Lage befinde. Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du allmählich dahinter kämst, wie man einen Flaschengeist, wie mich, aus einem Gefängnis, wie diesem, befreien könnte. Nicht, dass ich dich drängeln will. Aber recht bald wäre echt gut. Es lohnt sich, glaub mir.«

»Im Rucksack habe ich ein Taschenmesser. Ich könnte die Flasche aufschneiden«, überlegt Tina laut.

»Könntest du, Tina. Würde ich aber nicht machen. Ehrlich.«

»Und wie dann?«

»Und wie dann?«, äfft das Wesen nach und lässt die kleinen Augen rollen. »Und dann heißt es immer: Frische Luft sei gut fürs Hirn. Ich lach mich tot.«

»Du musst doch irgendwie da hineingekommen sein«, fragt Tina misstrauisch.

»Natürlich. Wäre ich sonst hier drin? Aber darum geht es jetzt doch gar nicht, Schätzchen. Ich muss hier raus, klar?«

Bevor Tina darüber nachdenken kann, kommt direkt neben ihr ein Mountainbike schlitternd zum Stehen und lässt sie herumwirbeln.

»Sind Sie hingefallen?«, fragt ein etwa zehnjähriger Junge.

Tina schüttelt den Kopf und deutet auf die Flasche im Gras.

Der Junge steigt aus dem Sattel, lässt sein Fahrrad fallen und besieht sich alles aus der Nähe.

»Hi«, grüßt das Wesen in der Flasche den neu Hinzugekommenen.

»Ist das etwa ein Flaschengeist?«, staunt der junge Biker.

»Behauptet er jedenfalls«, nickt Tina.

Der Junge greift zu und hält die noch etwas mehr als halbvolle Flasche in die Höhe. »Krass«, staunt er. »Wie issen der da rein gekommen?«

»Keine Ahnung. Jetzt will er wieder raus.«

»Echt?« Der Junge sieht sich den Flaschengeist genauer an und murmelt: »Hammer.«

»Nee, kein Hammer«, fuchtelt der Flaschengeist.

»Reiben?«, erinnert sich der Junge an ein altes Märchen.

»Vergiss es.« Der Flaschengeist schüttelt den Kopf.

Der Junge zögert nur kurz. Dann presst er seinen Daumen auf die Öffnung, schüttelt das restliche Mineralwasser kräftig und gibt den Hals wieder frei.

Es zischt und spritzt in einer Art und Weise, die Tina der Halbliterflasche niemals zugetraut hätte. Sie muss sich erst einmal die Augen reiben, als plötzlich eine mannshohe Gestalt vor ihr und dem Knaben steht und den Waldweg volltropft.

»Gut gemacht«, klopft der befreite Flaschengeist seinem Retter auf die Schulter. »Du hast zwei Wünsche frei.«

»Zwei? Wieso nur zwei?«

»Du bist noch minderjährig.«

»Okay. Geht Geld?“

„Geld geht. Geld geht immer.“

„Zwei Millionen?“

Der Flaschengeist wiegt den Kopf hin und her: „Ganz schön happig, aber machbar.“

„Weißt du, was eine XBox ist?“

„Logisch.“

„Kann ich eine haben?“

„Kriegst du. Ich pack noch ein paar Spiele dazu. Wegen drittem Wunsch und so. Okay?“

Der Junge nickt begeistert.

»Also dann, Alter. Geld ist morgen auf dem Konto deiner Eltern. XBox findest du in deinem Zimmer, wenn du heimkommst.«

Tina hört alles fassungslos mit an. Zaghaft reckt sie den Zeigefinger in die Höhe. Sie will nun ihre Ansprüche geltend machen. Schwupp! Da ist der Geist auch schon verschwunden. Die Pfütze am Boden verdunstet ebenfalls rasch.

»Voll geil, oder?«, schaut der Junge mit leuchtenden Augen zu Tina hinunter und kehrt freudestrahlend zu seinem Rad zurück.

Energisch springt Tina auf die Füße. Sie holt den Jungen ein und rupft ihm die fast leere Flasche aus der Hand.

»Die gehört mir«, raunzt sie den Knaben an. »Da ist noch Pfand drauf.«

ENDE